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Timeline - Geschichte der Fluorchinolone 1980-2017 - Fluor, die Wurzel allen Übels

Verfasst: 12.09.2017, 17:12
von spacerat
1962: Entdeckung der Nalidixinsäure. Nalidixinsäure ist eine synthetisch hergestellte chemische Verbindung aus der Gruppe der Diazanaphthaline, die starke strukturelle Ähnlichkeit zu Chinolonen aufweisen. Durch ihre Wirkung als Gyrasehemmer war sie 1962 das erste als Antibiotikum eingesetzte Verbindung dieser Klasse. Nalidixinsäure wurde 1962 als hauptsächlich gegen Gram-negative Bakterien wirksames Antibiotikum mit niedriger Toxizität entdeckt (LD50 bei oraler Gabe in Mäusen von ca. 3 g/kg).

https://de.wikipedia.org/wiki/Nalidixins%C3%A4ure
https://www.biologie-seite.de/Biologie/ ... s%C3%A4ure

1978: Als erstes fluoriertes Chinolon wurde 1978 Norfloxacin entwickelt, das in der Schweiz im Jahr 1983 zugelassen wurde. Norfloxacin, hatte eine gute Bioverfügbarkeit, eine längere Halbwertszeit und trifft vor allem ein breiteres Erregerspektrum

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ ... el_42_2000
https://www.pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Chinolone

1980: Medizinalchemiker stellen fest, dass Chinolone mit einem Fluorsubstituenten an Position C-6 die stärkste antibakterielle Aktivität aufweisen. Sie gehen davon aus, dass die C-6-fluorierten Derivate gegenüber C-6-chlorierten Derivaten fünfmal und gegenüber dem am stärksten wirksamen nicht-halogenierten Chinolon zehnmal stärker wirken. Sie untersuchen nicht, welche Auswirkungen das Ergebnis auf Eukaryoten hat:

"In particular, the activities of the 6-fluoro- and 6-chloro-7-(1-piperazinyl) derivatives in the disubstituted analogues were expected to be very potent, namely, about 10 and 5 times, respectively, that of monosubstituted 3 (2, R1 = R3 = H and R2 = piperazinyl), which had the most potent activity and the broadest spectrum of the compounds tested."
(http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/jm00186a014)

1986: US-Forscher beobachten, dass C-6-fluorierte Chinolone im Unterschied zu nicht-fluorierten Chinolonen eine bis zu 126-mal stärkere antibakterielle Hemmwirkung aufweisen und das Fluoratom an Position 6 eine bis zu 17-mal stärkere Bindung an den Gyrasekomplex und eine bis zu 70-mal stärkere Zellpenetration bewirkt, wohingegen andere an Position 6 eingebrachte Substituenten eine sehr schwache Hemmwirkung begünstigen. Sie untersuchen nicht, welche Auswirkungen das Ergebnis auf Eukaryoten hat:

"The effect of the C6-fluorine is dramatically seen by comparison of the desfluoronorfloxacin 1i and the desfluoroenoxacin 2c with the parent drugs. Norfloxacin is 17.5 times more potent in the gyrase cleavage assay than the desfluoro derivative li and 63 times more active in the MIC vs. E. coli H560. This tremendous boost in activity is seen in other strains as well. Norfloxacin is 126 times more active than li vs. Klebsiella and 125 times more active vs. Pseudomonas... A similar enhancement is repeated when comparing enoxacin with the desfluoro naphthyridine 2c. In this case the gyrase activity is improved 15 times and the MIC 31-fold... Thus, the 6-fluorine appears to improve both gyrase complex binding (2 - 17-fold) and cell penetration (1 - 70-fold)... One would expect the C6-fluoro group to be beneficial in almost any quinolone drug synthesized. Other groups at C6 were examined such as in the 6-nitro and the 6-aminonalidixic acids 2m and 2n, which showed very poor gyrase and MIC activities..."
(http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/jm00153a015)

1989: Die beiden o. g. Ergebnisse werden referenziert. Erneut fehlen Hinweise auf Zytotoxizitätsrisiken:

"Of the various C-6 substituents (H, F, Cl, Br, CH3, SCH3, COCH3, CN, and NO2), the addition of a fluorine atom resulted in a dramatic increase in antibacterial potency (35). The fluoro group at position C-6 seems to improve both the DNA gyrase complex binding (2- to 17-fold) and cell penetration (1- to 70-fold) of the corresponding derivatives with no substitution at the C-6 position (13). Because of such an enhancement of antibacterial potency, nearly all of the recently synthesized quinolones carry a C-6 fluorine substituent."
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articl ... 0-0015.pdf)

1992: Autoren der Studie von 1986 erläutern, dass Fluorchinolone mit der stärksten antibakteriellen Hemmwirkung zugleich die stärkste Zytotoxizität aufweisen:

"Studies with a limited series of fluoroquinolones have also shown that their ability to inhibit topoisomerase II was directly correlated with their cytotoxicity on murine cells... The data in general indicate that some of the most cytotoxic compounds were also some of the best antibacterial agents."
(http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/jm00103a013)

1993: In vitro zeigt sich, dass C-6-fluorierte Chinolone den GABA-A-Rezeptor hemmen und in Kombination mit BPAA Krampfanfälle bei Mäusen auslösen, wohingegen das nicht-fluorierte Chinolon Nalidixinsäure weder den GABA-A-Rezeptor hemmt noch in Verbindung mit BPAA Krampfanfälle bei Mäusen auslöst.
(https://www.researchgate.net/publicatio ... quinolones)

1994: Fluorchemiker stellen fest, dass die antibakterielle Aktivität C-6-fluorierter Chinolone gegenüber den nicht-fluorierten Chinolonen Nalidixin- und Pipemidsäure bis zu 256 mal stärker ist.
(Organofluorine Chemistry: Principles and Commercial Applications)

1996: Im SOS-Chromotest zeigt sich, dass C-6-fluorierte Chinolone genotoxisch wirken, wohingegen das nicht-fluorierte Chinolon Nalidixinsäure nicht genotoxisch wirkt.
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9449772)

1997: Im Comet Assay zeigt sich, dass C-6-fluorierte Chinolone photogenotoxisch wirken, wohingegen das nicht-fluorierte Chinolon Nalidixinsäure nicht photogenotoxisch wirkt. Den Ergebnissen zufolge sinkt der Anteil lebensfähiger Zellen bei steigender Fluorchinolonkonzentration, wohingegen bei steigender Nalidixinsäurekonzentration eine geringfügige Zunahme lebensfähiger Zellen beobachtet wird.
(http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1 ... 160.x/full)

1998: In vitro zeigt sich, dass C-6-fluorierte Chinolone Sehnenzellen schädigen, wohingegen das nicht-fluorierte Chinolon Nalidixinsäure keine Zellschäden verursacht. Den Ergebnissen zufolge schränken Fluorchinolone die Mitochondrienaktivität ein, wohingegen unter Nalidixinsäure ein leichter Anstieg der Mitochondrienaktivität beobachtet wird.
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/9733283)

2002: Medizinalchemiker stellen fest, dass nicht-fluorierte Chinolone ein geringeres klastogenes Potential aufweisen als C-6-fluorierte Chinolone.
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/12462153)

2003: In einer Übersichtsstudie wird anhand einer Auswertung unabhängiger, vergleichender Versuchsreihen mit fluorierten und nicht-fluorierten Chinolonen belegt, dass Chinolone mit einem Fluoratom an Position 6 klastogen wirken, wohingegen Chinolone, die an Position 6 ein Wasserstoffatom enthalten, nicht klastogen wirken.
(https://www.researchgate.net/publicatio ... lones_NFQs)

Ein Autor der o. g. Studien von 1986 und 1992 konzediert, dass dem Fluoratom an Position C-6 bei geno- und neurotoxischen Wirkungen der Fluorchinolone eine signifikante Rolle attestiert werden muss:
"It seems clear that the C-6 fluorine is a significant contributor to genotoxicity and CNS liabilites as tested in animals."
(http://www.asmscience.org/content/book/ ... 7817.chap1)

2005: Erneut zeigt sich in vitro, dass C-6-fluorierte Chinolone Sehnenzellen schädigen, wohingegen das nicht-fluorierte Chinolon Nalidixinsäure keine Zellschäden verursacht.
(https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16148020)

2010:
In einer auf WHO-Daten gestützten Studie zur Relation zwischen der Anwendung fluorierter Wirkstoffe und der Häufigkeit gemeldeter Nebenwirkungen wird mittels Disproportionalitätsanalyse gezeigt, dass das C-6-fluorierte Chinolon Ciprofloxacin im Unterschied zum nicht-fluorierten Chinolon Pipemidsäure häufig muskuloskelettale und psychiatrische sowie zahlreiche organspezifische Nebenwirkungen (s. Addendum) verursacht.
(https://dspace.library.uu.nl/bitstream/ ... verdel.pdf)

Re: Timeline - Geschichte der Fluorchinolone 1980-2017

Verfasst: 12.09.2017, 20:30
von S.Heuer
Hallo Sven!

Vielen Dank für diese sehr informative Zusammenfassung und Chronologie.

Sehr interessant!

Grüße
Sascha

Re: Timeline - Geschichte der Fluorchinolone 1980-2017 - Fluor, die Wurzel allen Übels

Verfasst: 13.09.2017, 20:53
von Schorsch
Hallo Sven,

echt klasse genau so muss das hier stehen. Bin gespannt welche Resultate aus der EMA Evaluierung hervorgehen. Es kann theoretisch nicht weniger, wie die US Vorgehensweise resultieren. Mit mehr und härteren Vorgaben (Marktrücknahmen etc.) rechne ich allerdings nicht, die FDA hat ja auch eine Salamitaktik und die Pharma ist ohnehin zu mächtig. Das heißt in Europa wird hier keiner weiter als US-Regelungen vorpreschen und noch härter reglementieren...

Gruß Schorsch